
Paris II (2025) ist mein fünftes Konzert in sechs Tagen. In Amerika brachte ich es beim dritten Leg der 2025er Outlaw-Festival-Tour einmal auf drei Outlaw-Dylan-Konzerte in drei verschiedenen Städten an einem Wochenende. Nach drei aufeinanderfolgenden Tagen in Brüssel, folgt mit „Paris II“ für mich ein Nachschlag in Sachen Konsum einer mehrfachen Wiederholung eines in diesem Jahr sich nicht veränderten Konzertformats.
Würde sich denn bei meinem fünften Konzert in sechs Tagen etwas ändern? Warum sollte Dylan überhaupt etwas ändern wollen. Dylan tritt nicht für die auf, die der Aufführung seiner Werke wiederholt beiwohnen möchten. Er spielt auch nicht für die, die selbst im Jahr 2025 noch immer auf ein „Best Of…“ mit Songs wie „Blowin`in the Wind“ oder „Knockin` on Heaven`s Door“ hoffen. Er spielt für sich und für sein Werk. Seiner hohen Kunst der Wiederholung muss man sich stellen wollen. Immer ist das mit Aufwendungen verbunden. Tickets, Anfahrt und gegebenenfalls Übernachtungen machen die Kunsterfahrung aufwendig. Aber mit Dylan kommt man herum, reist viel, sieht viel. Auch damit eröffnet er Horizonte. Paris, 31. Oktober 2025. Das sind 13 Tage vor dem 10. Gedenktag an das entsetzliche Attentat auf das „Bataclan“ am 13. November 2015. Bei einem dortigen Konzert der „Eagles Of The Death Metal“ wurden durch einen terroristischen Anschlag 89 Menschen ermordet.


Paris, 31. Oktober 2025. Das ist auch ein Besuch auf dem „Père Lachaise“, dem legendären Pariser Friedhof, wo z.B. u.a. auch Edith Piaf, George Moustaki oder Jim Morrison begraben sind.


Paris, 31. Oktober 2025. Das bedeutet auch „Halloween“ in Paris. Spinnenweben und riesige Skelette an den Häusern, wie ich sie z.B. zwei Jahre zuvor bei Dylans Konzert in Montreal en masse gesehen hatte, sehe ich in Paris nicht.
Alles irgendwie Symbole, für das auch Dylans Album „Rough And Rowdy Ways“ steht: Reflexion über Vergangenheit und Gegenwart, Suche nach einer verlorenen Zeit, Bewusstwerden der Vergänglichkeit, Gedanken über Leben und Tod.
Nach dem Dylan-Konzert begegnen mir in der Pariser Innenstadt viele junge Menschen in Halloween-Kostümen oder stehen in solchen Kostümen vor Clubs an. Junge Menschen gibt es aber auch im Pariser Publikum. Mehr als in Brüssel. Von der Boomer-Generation über die Gen Y bis zur Gen Z ist alles präsent. Auch im Pariser Palais weht der Hauch des Abschiedes und die Wehmutsstimmung, Dylan womöglich ein letztes Mal in der französischen Hauptstadt erleben zu können. Irgendwann werden vielleicht, anstatt Konzerte von Bob Dylan nur noch sein Avatar zu sehen und hören sein. Irgendwann werden nur noch Biopics über Dylan zu sehen sein, anstatt ihn „live in concert“ erleben zu können. Apropos Promotion: Plakate zur Bewerbung der Pariser Konzerte gibt es 2025 kaum.
Die Konzerte waren schnell ausverkauft. Nur vereinzelt sieht man am 31. Oktober noch irgendwo in einem Metro-Schacht ein altes Plakat hängen. Omnipräsent dagegen ist die Plakatwerbung für den auf dem gerade auf dem Disney-TV-Kanal anlaufenden „Like A Complete Unknown“-Film.
Alles kleine Details, auf die man achtet, wenn man durch fremde Städte auf dem Weg zu Dylan-Konzerten pilgert. Ebenso achtet man auch auf die kleinen Details der Veränderung in den jeweiligen Konzerten, wenn man davon einige innerhalb kurzer Zeitabstände besucht. Paris II hat davon wieder einige zu bieten.
Dieses Mal bin ich etwa eine Stunde vor dem pünktlichen Konzertbeginn um 20.00 Uhr im Palais. Die Eingangskontrollen sind wieder moderat. Viele Pariser halten sich nicht an die Zwangsabgabe ihrer Smartphones, und schauen noch bis kurz vor 20.00 Uhr gelegentlich darauf, um kurz die Uhrzeit zu checken oder womöglich letzte news zu lesen. Sie halten sich aber an Dylans „Wunsch“, die Smartphones nicht während des Konzertes zu gebrauchen. Kein einziges Mal sieht man während Dylans 100 Minuten-Andacht ein Display aufleuchten. Wenn man Tickets für die nicht viel günstigeren Plätze im hinteren, gar oberen Bereich des Palais (für ca. 150 Euro) gekauft hatte, ist der Blick auf Dylan nicht schlechter, als wenn man im Parterre und auf den ersten 20-30 vorderen Plätzen sitzt. Die Akustik empfinde ich als zuträglich. Besser als am Tag zuvor. Der Sound kommt nicht an die letzten beiden Konzerte im Bozar heran. Trotz besserer Aussteuerung gegenüber dem ersten Abend, hallt der Klang zu „kalt“ in den Gemäuern der Kongresshalle nach. Aber er passt zu der spartanischen Darbietung, dem wenigen Licht und der Stimmung im Saal. Fast erinnert die Atmosphäre an die in einem „Zendō“, einem spirituellen Dōjō in Zen-Tempeln, in denen „Zazen“, also Meditation praktiziert wird. Ja, Paris II offeriert mir solche Zen-Momente. Der erste „Zen-Moment“ erschließt sich mir bei „Black Rider“. Später kommen weitere „Zen-Momente“, insbesondere bei den „Spoken-Word“-Songs wie z.B. bei „My Own Version Of You“, „Key West“ oder gar beim walzerartigen „Mother Of Muses“ hinzu. – Ich entziehe mich dem Standbild auf der Bühne, das nicht viel an Abwechslung zu bieten hat, schließe die Augen und steige zunächst in das Lied „Black Rider“ ein und begleite gedanklich den schwarzen Reiter. Er erzählt davon, sich mit seinem Leben abzufinden, mit Würde vorauszugehen, um schließlich ebenso würdevoll Abschied zu nehmen.
Ich erinnere mich an das Buch „Bargainin‘ for Salvation: Bob Dylan, a Zen Master?“ von Steven Heine von der Floria International University aus dem Jahr 2009. Darin äußert er Gedanken, wie Bob Dylans Wortgut mit Zen in Verbindung gebracht werden kann. Ich erinnere mich auch an einen Artikel mit dem Titel „Bob Dylan’s Zen Garden – Cross-Cultural Currents in his approach to religiosity“ des FIU Asian Studies Program vom gleichen Autor aus dem Jahr 2016, das Zen-Parallelen in Dylans Werk untersucht. (https://asian.fiu.edu/jsr/heine-dylanzen-article2.pdf)
Ja, Bob Dylan zeigte schon lange vor „Black Rider“ in der Vergangenheit schon zu Beginn seiner Karriere eine Affinität zum Zen, da viele seiner Texte die buddhistischen Konzepte von „Sehen, wie die Dinge wirklich sind“, moralischer Kausalität (Karma) und der Auseinandersetzung mit der Leere widerspiegeln. Zen-ähnliche Aspekte wie das Sehen, wie die Dinge wirklich sind, lassen sich in einigen seiner Songs erkennen. Gerade in Texten, die von den Beat-Poeten beeinflusst sind, scheint Dylan die Zen-Haltung zu spiegeln, indem er Täuschungen überwindet. Das Thema „Karma“, die Vorstellung, dass „jeder etwas zurückgeben muss für etwas, das er bekommt“ wird in schon in früheren Songs wie z.B. „Stuck Inside of Mobile with the Memphis Blues Again“ angesprochen. Und auch in „4th Time Around“ wird das thematisiert und ähnelt dem buddhistischen Karma-Konzept. Bei Songs der „The Basement Tapes“ wie z.B. „Too Much of Nothing“ und „Nothing Was Delivered“ erforscht Dylan z.B. die Auswirkungen der Leere oder die der spirituellen Leere.
Schon am ersten Abend, und vielleicht ist es wirklich nur der Atmosphäre dieses Kongresssaales geschuldet, entwickelt sich bei mir bei „Black Rider“ daher die Assoziation, Dylans Lyrik mit Zen zu verbinden. Nein, einen direkten, bewiesenen Zusammenhang zwischen den Liedern von Bob Dylan und dem Zen-Buddhismus gibt es ebenso wenig, wie die Blaupause für die Interpretation seiner Texte. Einige der RARW-Texte weisen aus meiner Sicht jedoch durchaus thematische Parallelen auf, die an Zen erinnern. Dazu gehören die Suche nach Wahrheit, die Darstellung von Paradoxen und die Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen, sei es nun Tod und nahende Vergänglichkeit in „Black Rider“ (Song No. 6), die Liebe in „My Own Version Of You“ (Song No. 7) oder eben das Leben in „To Be Alone With You“ (Song No. 8) und in „Crossing the Rubicon“ (Song No. 9).
Ein Großteil seiner (nicht nur) RARW-Songs handeln von einer Suche nach einem tieferen Verständnis oder einer Wahrheit, ähnlich der spirituellen Suche im Zen. Dylan kritisiert oft Werte, die auf die Überwindung von Anhaftung abzielt, was sich ebenso mit der Zen-Lehre erklären lässt. Dylans Texte enthalten oft paradoxe Bilder und behandeln existenzielle Fragen, die an die Paradoxa des Zen erinnern und die zum Überwinden des dualistischen Denkens anregen sollen. Gerade in den RARW-Texten reflektiert er über die menschliche Existenz und die Schwierigkeiten des Lebens, was auch ein zentrales Thema im Zen ist. In Paris II empfinde ich Dylans 17 Songs aufgrund der nüchternen, distanziert wirkenden Atmosphäre besonders als ein Angebot zur Meditation „in concert“. Ein Angebot zur Erfahrung des gegenwärtigen Augenblicks, des gegenwärtigen Bewusstseins. Glauben und Religion setzt er nicht voraus. Dennoch verlangt er das Einlassen auf seine Texte, was im Herbst 2025, seitdem er sich der Visualisierung seiner Person beim Vortrag geradezu entzieht und störende Elemente wie „Showelemente“, Licht und eben z.B. auch Smartphones nicht toleriert. Für die, die sich darauf bewusst oder unbewusst einlassen wollen, schafft er mit seiner gegenwärtigen Performance Raum, Zeit und Leere, fast wie in einem Zendō. Und er lässt Raum für neue Details. In „When I Paint My Masterpiece“ spielt er im Gegensatz zu Paris I noch ein drittes Mal Gitarre. Im Gegensatz zu Paris I greift er neben den bis dato bekannten „Harp“-Songs zusätzlich noch bei „Watching The River Flow“ und „Goodbye Jimmie Reed“ erneut zur Mundharmonika. Das ist seine Art der Interaktion mit dem Publikum, Worte an das selbige richtet er wieder nicht. Nach wenigen kurzen Erhebungen von seinem Klavierhocker und sekundenlangem Stehen ist die halbminütige Verabschiedung stehend und sich dem jubelnden Applaus stellend, die offensichtlichste Interaktion mit dem im Vergleich zum Vorabend lauter und intensiver jubelnden Pariser Publikum. Auch honoriert das Pariser Publikum an diesem Abend Dylans „Angebot“ von Tiefgang und musikalischer Vielfalt zwischen viel Spoken Word, Blues, Jazz und Bossa-Nova, einigem älteren Liedgut und neun von zehn „RARW“-Songs immer wieder mit spontanen Standing Ovations zwischen den Songs. Nach 100 Minuten ist die „Pilgerreise“ in Dylans „Zen“ beendet. Dylan steht im übergroßen blauen Jackett und schwarzer Hose und gewohnt angewinkeltem Arm in der Hüfte bühnenmittig da, dreht sich um und geht. Das „Zazen“ ist zu Ende.


